INTERVIEW Dr. med. Martin Viehweger mail@martinviehweger.com chen Pandemie, wie sie mit dem SARS-CoV-2-Virus in den vergangenen Monaten das gesamte öffentliche und private Leben beeinflusst hat. Herr Dr. Viehweger, Sie sind Infektiologe, Aktivist für sexuelle Gesundheit und Health Care Professional für Veranstaltungen der Community sowie auf niedrigschwelligen szenenahen Plattformen. Welche Auswirkungen hatte die Coronapandemie für die Community? Es ist unter den aktuellen Umständen extrem schwierig, Community-Arbeit und unsere Projekte für sexuelle Gesundheit voranzutreiben. Wir können nicht vor Ort arbeiten, aufklären und testen , wir können keine „Offenen Mikrofone“, keine Chem sex‐Infotalk-Veranstaltungen anbieten, nicht einladen und die Leute da abholen, wo sie mit all ihren Fragen und Problemen sind. Wir müssen also schauen, wo finden wir jetzt die Gruppen, mit denen wir normalerweise reden − Transmenschen, Sexarbeiter*innen, Homosexuelle, queere Menschen aus den unterschiedlichsten Community-Bereichen. Wir beobachten, die ganze Welt verschiebt sich gerade von analog zu digital. Und: Auch die Community, das ist ein durchaus positives Outcome der Krise, hat sich selbst sehr schnell neu organisiert in der digitalen Welt. Das Problem ist, alle machen jetzt irgendwo irgendwie ein bisschen was – z. B. rund um die Uhr Online-Dragshows im Livestream mit kleinen selbst gedrehten Videos, bei denen man miteinander sprechen und interagieren kann. Die Dragqueens kommunizieren nur auf einer virtuellen Bühne. Aber es gibt keine größeren Veranstaltungen mehr, auf denen wir die Community gemeinsam erreichen. Wir mussten uns also in die virtuellen Kanäle einklinken. Auch unser Projekt, das „Offene Mikrofon“ und unsere sozialen Projekte schieben wir jetzt mehr ins Digitale. Ich versuche, mein Offenes Mikro fon alle zwei Wochen online zu platzieren und werte das Echo aus. Haben sich die Themen im Vergleich zu den Liveveranstaltungen verändert? Ja, das ist sehr auffällig. Es wird jetzt sehr viel mehr über Einsamkeit gesprochen, über Depression und Deprivation. Plötzlich geht es auch häufiger um Gesundheit und persönliches Wohlbefinden. Und man stellt fest, dass sich die Gesellschaft im Umgang mit Corona gerade aufsplittet. Die einen sagen, wir halten jetzt alle zusammen, halten irgendwie durch, verteilen Spendengelder und versuchen kreativ zu sein. Und es gibt jene, die von 14
HIV UND SARS-COV-2 ihrem Fenster aus Fotos machen, wenn Menschen sich draußen in kleinen Gruppen versammeln. Die werden gepostet, sie fangen dann an mit Shaming und verlangen, diese Menschen müssten getrackt und eingesperrt werden. Das ist eine Gefahr von digitalen Möglichkeiten. Dabei offenbart sich auch, und das ist teilweise schon bedenklich, wie unsere Gesellschaft insgesamt mit der aktuellen Situation umgeht. Steht man dem Shutdown kritisch gegenüber, meint z. B., dass es für einige Menschen o. k. ist auf die Straße zu gehen, weil dahinter vielleicht Notwendigkeiten stehen, bekommt man sehr viel Gegenwind. Ich denke, man sollte, statt vorschnell zu ächten, wie es oft geschieht, die Maßnahmen und das ganze Prozedere, Tracking Apps etc. auch kritisch hinterfragen dürfen. Wie wichtig von Anfang an andere Strategien gefahren, dann wäre es möglich gewesen, vielleicht auch ganz andere Quarantäneoptionen in Betracht zu ziehen. Ich wünsche mir, dass alles, was wir jetzt hier veranstalten, danach kritisch angeschaut wird. Dass wir erkennen, was uns wichtig ist, uns dafür einsetzen und dafür kämpfen. Wie ist das Feedback? Hilft die digitale Kommunikation der Community? Auf jeden Fall. Die User werden aus der sozialen Vereinsamung herausgeholt. Sie konsumieren ja nicht nur, sondern im besten Fall produzieren sie auch. Oder sie stehen zumindest im Dialog und im Austausch. Schwierig wird es, wenn jemand eher Ich hoffe, dass wir nach Corona nicht weitermachen wie vorher, sondern dass wir uns für notwendige Verbesserungen im Gesundheitssystem einsetzen. ist uns unsere Freiheit? Wäre es nicht sinnvoller, mit einem anderen Narrativ den Menschen mehr Eigenverantwortung zu geben mit der Situation umzugehen, anstatt schon vorab zu sagen, das schaffen sie ohnehin nicht und deswegen sollten wir besser alle zu Hause „einsperren“? Solche Diskussionen mit quasi einer konträren Meinung zum aktuellen Shutdown sind allerdings sehr schwierig online zu führen. Sehen Sie Freiheit und Demokratie, wie wir sie hierzulande genießen, jetzt in Gefahr? Es wäre wichtig, dass wir diese Diskussion um Freiheit vs. Deprivation, deren Maß und die Modalitäten unbedingt im Nachgang führen. Hätte man aus dem Negativen schöpft und andere basht. Andererseits, auch das ist zu beobachten, versucht man in der Community dem Shaming und Bashing zu widersprechen: „So sollten wir eigentlich nicht miteinander umgehen und übereinander reden.“ Wie hat sich für Sie der allgemeine Praxisbetrieb verändert? Die Betreuung der Patient*innen ist sehr viel komplizierter, wenn man kaum persönlichen Kontakt haben darf. Auch, weil es nicht nur um reine Therapiemaßnahmen und die Verordnung von Medikamenten geht. Die Patient*innen haben z. T. Angst und sind sehr verunsichert durch Nachrichten, die oft nicht eingeordnet und zu wenig erklärend INTERVIEW 15
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