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Leseprobe CONNEXI SCHMERZ Ausgabe 1-2019

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WAS IST „KAPUTT“ BEI

WAS IST „KAPUTT“ BEI DER VESTIBULÄREN MIGRÄNE? „Software- oder Hardware-Störung“? Dagny Holle, Steffen Nägel, Sebastian Wurthmann, Essen Die vestibuläre Migräne (VM) ist eine Sonderform der Migräne, wobei der Schwindel sowohl zusätzlich zu den Migränekopfschmerzen als auch vor oder nach einer „Migräneattacke“ auftreten kann. Eine klare Trennung der an der Entstehung der VM beteiligten sowohl peripheren als auch zentralen Mechanismen kann nicht getroffen werden. In der aktuellen Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD III) liegen erstmals Diagnosekriterien für die VM vor. Sie sollte differenzialdiagnostisch korrekt abgeklärt werden, weil es eine gut mit Akut- und prophylaktischer Medikation behandelbare Erkrankung ist. Die Therapie orientiert sich dabei an den Behandlungsempfehlungen für eine Kopfschmerzmigräne. CONFERENCES Der Schwindel tritt häufig im Rahmen der VM, aber auch isoliert ohne weitere Kopfschmerzen auf. Zumeist beschreiben die Betroffenen eine Begleitsymptomatik in Form einer Phono- und Photophobie und/oder den vegetativen Symptomen Übelkeit und Erbrechen. Auch assoziierte Migräne-Aura Symptome sind häufig. Am häufigsten werden visuelle Auren berichtet. Einen typischen vestibulären Schwindel gibt es dabei nicht. Der Schwindel kann spontan oder bei Lagerung auftreten. Viele Patienten beschreiben lediglich eine Intoleranz bzgl. Kopfbewegungen oder einen durch bewegte Objekte induzierten visuellen Schwindel. Als Auslöser geschildert werden hier z. B. Fahren durch eine Allee oder die Effekte von 3D-Filmen. Die Dauer des Schwindels liegt zwischen fünf Minuten und 72 Stunden, aber auch längere Schwindelepisoden sind durchaus beschrieben. Der Schwindel kann von den Patienten als Dreh- oder Schwankschwindel oder auch als ein reines Benommenheitsgefühl „als sei man betrunken“ erlebt werden. Erstmals liegen in der aktuellen Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD III) Diagnosekriterien für die VM vor [1, 2] (Tabelle 1), welche in Tabelle 1: Diagnosekriterien Vestibuläre Migräne [1] A. Mindestens fünf Episoden, welche die Kriterien C und D erfüllen B. Aktuell oder zuvor bestehende Migräne (ohne oder mit Aura). Mindestens fünf Episoden, welche die Kriterien C und D erfüllen C. Moderate oder starke vestibuläre Symptome von fünf Minuten bis 72 Stunden Dauer D. Mindestens 50 % der Episoden sind begleitet von mindestens einem der folgenden migränösen Symptome: 1. Migräne-Kopfschmerz 2. Photophobie und Phonophobie 3. Visuelle Aura E. Keine andere ICHD-3-Diagnose oder andere Schwindel erkrankung zutreffender Zusammenarbeit mit der Bárány-Gesellschaft für Schwindelerkrankungen erarbeitet wurden. Pathophysiologie der vestibulären Migräne Die der vestibulären Migräne zugrunde liegende Pathophysiologie ist bislang ungeklärt. Insbesondere die Frage, ob es sich vorwiegend um zentrale 26

Abbildung 1: Ergebnisse der kalorischen Stimulation bei einem Patienten mit einer vestibulären Migräne. Es zeigt sich sowohl bei Kaltwasser als auch bei Warmwasserstimulation ein ausgeprägter Nystagmus. oder periphere Veränderungen bei diesem Krankheitsbild handelt, ist offen [3]. Die Konnektivität zwischen trigeminalem und vestibulärem System ist seit langem bekannt. Anatomisch erhalten die vestibulären Kerngebiete noradrenerge Projektionen vom Locus coeruleus [4] und serotonerge Projektionen aus den dorsalen Raphe-Kernen [5]. Experimentell konnten diese relevanten anatomischen Verbindungen bei Patienten mit Migräne belegt werden. So ließ sich mit einer durch schmerzhafte dermale supraorbitale Stimulation bei Patienten mit Migräne ein Nystagmus auslösen; dies ist bei Kontrollpersonen nicht der Fall [6]. Zudem konnte gezeigt werden, dass die kalorische Stimulation im Rahmen einer Videonystagmographie (VNG) bei Migränepatienten innerhalb der ersten 24 Stunden der Untersuchung vermehrt Migränekopfschmerzen auslöst [7]. In der klinischen Routine fällt häufig bereits während der VNG-Untersuchung auf, dass Pa tienten mit einer vestibulären Migräne oftmals besonders ausgeprägt auf die kalorische Stimulation reagieren. Dieses gilt sowohl bzgl. der vegetativen Symptome wie Übelkeit und Erbrechen, als auch der nachweisbaren Nystagmen (Abbildung 1), wobei anzumerken ist, dass aktuell keine klaren Grenzwerte für eine „Überreaktion“ bei kalorischer Reizung vorliegen. Während einer vestibulären Migräneattacke lassen sich sowohl zentral und peripher generierte Nystagmen und Störungen der Okulomotorik nachweisen [8]. So findet sich bei einigen Patienten ein Spontannystagmus, andere haben einen Lage- oder Lagerungsnystagmus, Seitenwechsel der Nystagmen sind möglich. Bei bis zu 25 % der Patienten findet sich ein einseitiges peripher vestibuläres Defizit und bei 50 % der Patienten eine vestibulo-okkuläre Asymmetrie [9]. Interiktal zeigt sich bei einigen Patienten eine sakkadierte Blickfolge als Hinweis auf eine zentrale Komponente in der Pathophysiologie der VM [10]. Longitudinale Untersuchungen, inwiefern sich dieses „bunte Bild“ im Rahmen des Migränezyklus alterniert, sind ausstehend. Bildgebende Untersuchungen konnten zeigen, dass sich während einer vestibulären Migräneattacke der Stoffwechsel in Bereichen des Gehirns, die an der Verarbeitung von Schmerzen und vestibulären Reizen beteiligt sind, alteriert ist. Beteiligte sind u.a. das Cerebellum, der Thalamus sowie frontale und frontoparietale Hirnregionen [11]. Nach einer Kaltwasserspülung im Ohr zeigte sich zudem bei Patienten mit vestibulärer Migräne eine gesteigerte thalamische Aktivierung, die mit der vorliegenden Migränefrequenz korrelierte [12]. Neben funktionellen Veränderungen konnten mittels voxelbasierter Morphometrie auch strukturelle cerebrale Veränderungen bei Patienten mit VM nachgewiesen werden. Hier imponierte eine Reduktion der grauen Substanz in verschiedenen schmerzverarbeitenden multisensorischen vestibulären sowie vestibulär-assoziierten Hirnarealen [13]. CONFERENCES 27

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